Generation Armut

Vielen Ostdeutschen droht nach jahrelanger Arbeitslosigkeit nur eine kümmerliche Rente – aber auch im Westen wächst die Zahl der bedürftigen Ruheständler.

In sieben Jahren ist alles vorbei, und alles wird so bleiben, wie es ist. In sieben Jahren, vier Monate nach ihrem 65. Geburtstag, bekommt Sigrid Falke* aus Chemnitz Rente. Wie man ihr schrieb, stehen ihr 636,53 Euro zu, brutto. Hätte sie nie gearbeitet, bekäme sie vom Staat 627 Euro, netto.

Sigrid Falke hat aber 35 Jahre ihres Lebens gearbeitet, sie hat sechs Jahre lang vergeblich Arbeit gesucht und wird sieben weitere so tun, als gäbe es für jemanden wie sie etwas zu tun in der Region. Ihr Mann Matthias wird ein Jahr eher Rentner. Bloß wird die Altersgrenze in ihrem Fall nichts voneinander trennen. Denn Sigrid und Matthias Falke sind nicht nur die armen Arbeitslosen von heute. Sie sind auch die armen Rentner von morgen. Da kommt ein großes Problem auf die Deutschen zu. Die Rentenminister vergangener Regierungen haben es lange kleingeredet. Der Sozialdemokrat Olaf Scholz beschwor noch 2009: »Die Rente ist armutsfest.«

Das Paar aus Chemnitz führt vor Augen, dass das nicht stimmt. Es steht für eine Generation, vor allem im Osten, doch nicht nur. Es ist die Generation der Bundeskanzlerin. Die ostdeutschen Altersgenossen der Kanzlerin werden die ersten seit der Adenauer-Ära sein, denen es im Alter schlechter geht als den Rentnern vor ihnen. Ob in einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) von 2010 oder in einer Prognose für das Bundesarbeitministerium von 2005 – die Forscher sagen voraus: In der Generation Merkel sinkt die Durchschnittsrente bei Männern von heute knapp 1000 auf gut 800 Euro, bei Frauen von fast 800 auf rund 700 Euro. Im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wurde die Schwelle zur Armut zuletzt bei 1172 Euro netto im Monat für ein Paar vermutet. Sigrid und Matthias Falke werden als Rentner 1050 Euro haben, wenn sie nicht noch Arbeit finden. Es sieht nicht danach aus.

Als Deutschland Einheit feiert, 1990, sind Sigrid und Matthias in einem schönen Alter, 37 und 38, ihr Sohn ist zehn. Das Paar arbeitet seit fast 20 Jahren im VEB Ascota, einem Betrieb, in dem beide den Beruf des Mechanikers für Datenverarbeitungs- und Büromaschinen erlernt hatten. Ascota wird abgewickelt. Sigrid Falke lässt sich 1991 zur Einzelhandelskauffrau umschulen, mit IHK-Abschluss. Man hat ihr das auf dem Arbeitsamt angepriesen. Ihren Mechanikerberuf, sagte man ihr, könne sie vergessen, »das ist alles Schrott, was ihr da gemacht habt«. So erinnert sie sich.

Die Ausgaben für die Grundsicherung
im Alter steigen rasant

Mit ihrem neuen Abschluss sucht Frau Falke 1993 eine Stelle. Sie hat Vorstellungsgespräche, viele, niemand nimmt sie. Manche sagen »Sie sind zu alt«, da ist sie noch keine 40. Sigrid Falke ist attraktiv, sie ist nicht auf den Mund gefallen und hat einen guten Abschluss. Dann erfährt sie, dass die Geschäfte Verkäuferinnen ohne IHK-Abschluss bevorzugen. »Die waren einfach billiger.« Nach zwei Jahren stellt eine Textilreinigung Sigrid Falke an. Sieben Jahre später drängt der Inhaber sie heraus, ersetzt sie durch arbeitslose Nebenjobber. Da ist sie schon 50.

Die Entlassungswellen nach 1990, die Karrieren auf dem zweiten Arbeitsmarkt und lange Arbeitslosigkeit haben in den neuen Ländern dazu geführt, dass die Generation Merkel nicht genug in die Rentenkassen einzahlen konnte. Im Osten wird sich das Sinken der Renten noch verstärken, aber es erfasst auch den Westen. Zwar geht die Arbeitslosigkeit zurück, doch viele Jobs sind schlecht bezahlt, sind Teilzeit- und Zeitarbeitsstellen und 400-Euro-Jobs. Sie bringen dürftige Rentenansprüche.

Ein Indiz dafür, dass es den Westen schon trifft, sind die Ausgaben für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Das ist so etwas wie Hartz IV für Rentner. Im Schnitt 627 Euro zum Leben und Wohnen bekommen die Empfänger. Seit es die Leistung gibt, schnellen die Kosten dafür in die Höhe: In Frankfurt am Main stiegen sie von 27,5 Millionen Euro im Jahr 2004 auf 89,7 Millionen 2010. In Mönchengladbach wurden in sechs Jahren aus 7 Millionen Euro 17 Millionen, in Bielefeld aus 5,8 Millionen Euro 16,8 Millionen. Vier Milliarden Euro waren es vergangenes Jahr bundesweit, dreimal so viel wie 2003. Zum rasanten Anstieg hat allerdings beigetragen, dass es sich um eine 2003 neu eingeführte Leistung handelt und anfangs nicht viele von ihr wussten.
Die Altersarmut schien der schwarz-gelben Bundesregierung wichtig zu sein. Sie schrieb sich in den Koalitionsvertrag, eine Kommission zum Thema einzusetzen, bis April 2011. Aber sie tat es nicht. Jetzt will Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) nach der Sommerpause einen »Regierungsdialog Rente« führen mit Gewerkschaftern, Sozialverbänden und Wissenschaftlern, um Anfang 2012 Gesetzesänderungen vorschlagen zu können. Ingrid Fischbach, Vizechefin der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion, würde sich gern einmischen. Es sei hohe Zeit, auf die Brüche in den Arbeitsbiografien zu reagieren. »Die nehmen auch im Westen zu.«

Fischbach gefallen Reformideen, die Erziehungszeiten oder Jahre in Teilzeitarbeit bei der Rentenberechnung höher werten. Ursula von der Leyen denkt laut darüber nach, wie Geringverdiener höhere Anwartschaften fürs Alter erwerben könnten als Hartz-IV-Empfänger. Das klingt, als wolle man das Problem bloß von einem Steuertopf in den nächsten packen – aber es nicht lösen. »Nein«, sagt Ingrid Fischbach, »es geht um Würde, darum, ob ich als alter Mensch gezwungen bin, aufs Amt zu gehen, oder ob ich von meiner Rente leben kann.« In der Debatte, sagt sie, »darf es durchaus menscheln«.

Wissenschaftler warnen vor zu vielen Gefühlen. »Solche Modelle bergen immer die Gefahr negativer Anreize und ungewollter Effekte«, sagt Viktor Steiner, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin. Am Ende bekäme jemand, der lange für wenig Geld gearbeitet hat, womöglich genauso viel Rente wie jemand, der jahrelang von Hartz IV lebte. Steiner hat vergangenes Jahr für das DIW den Trend zur schrumpfenden gesetzlichen Rente belegt. Er sagt, im Grunde könne die Gesellschaft Altersarmut nur vermeiden, wenn sie ganz und gar auf »Erwerbsorientierung« setze: Jeder solle arbeiten müssen und das so lange wie möglich. Am besten bis 67. Auf Altersteilzeit und altersgerechte Arbeit zu setzen wäre gut.

Für die Jahrgänge von Sigrid und Matthias Falke kommen Dialoge und Gemenschel zu spät. Der Grundstein für ihre karge Rente ist schon in den Neunzigern gelegt. Matthias Falke hat sich 1991 zum PC-Servicetechniker ausbilden lassen. Er versucht noch 1992 die Büromaschinen aus Chemnitz im Osten loszuschlagen, doch gegen die Computer aus dem Westen ist kein Ankommen mehr. 1993 meldet er sich arbeitslos und bleibt es viereinhalb Jahre. Ein Nebenjob in einer Autovermietung scheint die Sache halb so schlimm zu machen. Aber Matthias Falke verliert den Anschluss an die Welt der Computer, die mal seine war. Er flüchtet sich in sein Ehrenamt als Fußballtrainer.

Darum, Jobs zu finden, geht es in diesen Leben bald nicht mehr, sondern nur noch darum, Maßnahmen zu kriegen. Das Arbeitsamt vermittelt Sigrid Falke, die Frau mit zwei Berufen, als Putze. Zwei Jahre schrubbt sie als »geringfügig Beschäftigte« eine Berufsschule. Man gibt ihr zwei Stunden Zeit für 8 Treppen und 25 Klassenzimmer. Sie nimmt es hin. Sie bedrängt ihre Sachbearbeiterin: »Ich will jetzt mal eine ABM!« Und malt in einer »Arbeitsbeschaffungsmaßnahme« ein halbes Jahr lang Orientierungstafeln für Wanderwege. Ein andermal wäscht sie in einem Sportpark durchgeschwitzte Trikots und putzt Fußballergarderoben für 1,50 Euro die Stunde, »Mehraufwandsentschädigung«, MAE. Dann liest sie in der Zeitung, es gebe wieder Bedarf an Mechanikern in der Region, »und ich mochte ja meinen Beruf«. Das Jobcenter übergibt ihren Fall an eine private Vermittlung. Die vermittelt: nichts. Auch Matthias Falke putzt mal hier und gärtnert da, baut Zäune, ist Hausmeister eines Gymnasiums, alles als Maßnahme – Strukturanpassung, SAM – gefördert.

Zwei Jahrzehnte lang waren Rentner die Wendegewinner. Die lückenlosen Ostkarrieren der Doppelverdienerpaare führten zu anständigen Bezügen aus den Westkassen, in die sie nie eingezahlt hatten. Die Alten gaben das aber in gewisser Weise an die Gesellschaft zurück: Sie waren wie eine Bank für den Handel und das Handwerk der neuen Länder, sie reisten, sie kauften Möbel, sie fuhren neue Autos, sie gingen ins Theater, sie waren die Sponsoren ihrer Enkel und verlässliche Wähler der demokratischen Parteien. Das hört mit der Generation Merkel auf.

»Die Altersarmut wird sich in den nächsten Jahren dramatisch verschlimmern«, sagt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Der Anteil der über 65-Jährigen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, wird nach seiner Einschätzung bis zum Jahr 2025 von heute rund 2,5 Prozent auf 10 Prozent steigen. Oder mehr. Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes, sagt, Deutschland drohe »eine Welle von Altersarmut, weil die Rente bereits um ein Viertel gekürzt worden ist und gleichzeitig jeder fünfte Beschäftigte zu Niedriglöhnen arbeiten muss«.

Was könnte passieren? Die SPD hat ein paar Ideen. In einem Antrag ihrer Bundestagsfraktion steht: Sie will auch Langzeitarbeitslosen Rentenpunkte zugestehen, obwohl sie nichts in die Kassen einzahlen. Sie möchte Niedriglöhner besser stellen als Hartz-IV-Empfänger und den Niedriglohnsektor bekämpfen. Caren Marks, Sprecherin der SPD-Arbeitsgruppe Familie, Senioren und Frauen, sagt, Minijobs seien inflationär: »Wir müssen diese Entwicklung stoppen.« Ein Jahr Arbeit auf 400-Euro-Basis bringe 3,22 Euro Rente. Sie findet, Mindestlöhne seien der Weg aus der Altersarmut. Der Wirtschaftswissenschaftler widerspricht. »Mindestlöhne bringen gar nichts«, sagt Viktor Steiner von der FU, »weder unter dem Beschäftigungsaspekt noch unter Verteilungsgesichtspunkten.«

Sigrid und Matthias Falke tun viel dafür, dass man ihnen nichts anmerkt. Alles in ihrem Leben hat seine Ordnung, die Wohnung, der Tagesablauf, die Kleidung. Aber sie abonnieren keine Zeitung, sie gehen nie essen, nie Kaffee trinken, nie ins Kino, nie in eine Ausstellung, sie fahren seit 19 Jahren nie in den Urlaub. Sie kaufen immer das Günstigste. Manchmal geht das am schnellsten kaputt. In der elf Jahre alten Einbauküche, ein Schnäppchen, sind Herdplatten zu ersetzen, Ausgaben, die sie nervös machen. Oder das Auto, vor zwölf Jahren gebraucht gekauft, muss zum TÜV. Kommt da was auf sie zu? Oder die Wohnung. Drei Zimmer Plattenbau, 71 Quadratmeter, die 365 Euro warm kosten. Jetzt wird der Block saniert. Hinterher soll die Wohnung 110 Euro teurer sein. Sigrid Falke hat Angst, umziehen zu müssen nach 30 Jahren. »Ich geh da nicht raus«, sagt sie, »niemals!«

Bis August dieses Jahres sitzt Sigrid Falke noch auf einer »Kommunal-Kombi«-Maßnahme im Bürgerhaus Chemnitz, einem Verein, der alten Leuten hilft und irgendwie auch sich selbst. Ein Jahr lang verdient Frau Falke 1000 Euro brutto im Monat. Auch ihr Mann hat es geschafft auf so eine »Stelle«, zeitversetzt. »Kommunal-Kombi« ist ein Konstrukt, das Arbeitslose aus der Statistik hält, aber kaum etwas für die Rente bringt. So kriegen sie wieder ein Jahr rum.

ABM, SAM, MAE, ALG I und ALG II – das sind die Rentenformeln im Osten, in der Generation Merkel. Sie sind nicht nur für den Einzelnen schlecht: Die Kaufkraft der Rentner, warnen ostdeutsche SPD-Politiker, werde dramatisch sinken. Ganze Landstriche und kleine Kommunen, schon jetzt gezeichnet von der Abwanderung der Jugend, drohten zu veröden.

Sigrid und Matthias Falke fürchten den Tag, an dem ihr Sohn Vater werden könnte. Er ist 31 Jahre alt und lebt als Dachdecker bei Ingolstadt in Bayern. Seine Eltern können es sich nicht leisten, ihn mehr als zweimal im Jahr zu sehen. »Wenn da ein Enkel wäre, bekäme der fast gar nichts von uns als Großeltern mit«, sagt sie. Sie ziehen sich wie Schnecken, die man vor die Fühler stößt, in ihr Haus zurück, immer weiter. Sie müssen rechnen, immerzu, ob sie den Strom zahlen können, die Wärme, das Wasser. Das Existenzielle. Geselligkeit, Kultur, Genuss, Bildung ordnen sich unter, bis zum Verschwinden. Man hat das Problem lange kleingeredet, es wird trotzdem groß werden.

  • Name geändert

Erscheinungsdatum
20.05.2011
Verlag
DIE ZEIT


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