Das verlorene Echo

Der Konflikt mit der SED beflügelte die kritischen Bands, nach der Wende provozierten sie keinen mehr – nun suchen sie wieder den Klang der Freiheit

Es kann nicht mehr so werden wie früher. Olaf Tost weiß es ja. Aber er will es trotzdem probieren. Er will wieder mit der Band auftreten.

Tost steht in einer kleinen, kalten Hinterhauswohnung in Prenzlauer Berg und greift in die Saiten der E-Gitarre. Dann fängt er an zu singen mit recht heller Stimme, und sein alter Kumpel Karsten Richter, der Bassist, fällt tiefer gelegt ein: »Flache Typen machen Bräuten den Hof/ Alte Frauen randalieren im Suff/ Schichtarbeiter fahren im Bus/ Alte Männer onanieren im Puff«, und »Suley Salami aus dem tiefsten Sudan/ dreht dir Gras und Pillen an/ Der Spätfilm fegt die Straße leer/ Freitag-Sendeschluss-Geschlechtsverkehr.«

Es ist der 9. November 1999. Der Text stammt aus dem Jahr 1985, aus dem Osten, als es saufende Frauen und Drogen offiziell nicht gab. Der Text ist nicht falsch geworden, er hat nur alles Ungeheuerliche verloren. Trotzdem werden sie das Lied singen, vielleicht nicht mit einem so depressiven Unterton, vielleicht mit mehr Sarkasmus. »Du musst den Leuten heute nicht mehr das Leben erklären«, sagt Tost.

Die ostdeutsche Band »Die Anderen«, die einst einer Musikszene in der sterbenden DDR ihren Namen gab, hat sich nach zehn Jahren Trennung wieder vereinigt. Deshalb steht Tost, 35, neben dem kalten Ofen auf einem abgetretenen Teppich und probt. Das Schlagzeug kommt vom Computer, das Saxophon muss man sich dazu denken. Sie üben, zunächst in kleiner Besetzung, für das Comeback eines vergessenen Lebensgefühls. »Es ist geil, wenn die Brustplatte von der eigenen Stimme wieder bebt«, sagt Tost.

Vom Alltag abgenabelt

Er will etwas von den alten Zeiten zurückhaben, von damals, als er glaubte, die DDR sei ein Grund, aber kein Hindernis, um ein freies, glückliches Leben zu führen. Man musste nur eine Band haben. »Eine Band war die beste Möglichkeit, eine eigene Plattform zu finden«, sagt Tost. Sie sei eine »mobile Einheit« gewesen, abgenabelt vom DDR-Alltag. Wie mittelalterliche Herolde seien sie durchs Land gezogen, die Mädchen waren scharf auf sie. »So eine lustige, abenteuerreiche Zeit wie damals werde ich nie wieder haben«, sagt Tost.

Es war die zweite Hälfte der achtziger Jahre. Die »Puhdys« fand man nicht mal mehr schrecklich, man belächelte sie. Und die Jungen, Unangepassten hatten keine Lust mehr, nur heimlich zu spielen. »Ich wollte raus auf die Bühne, ich wollte nicht in Kirchen die Reinheit der Lehre verbreiten«, sagt Tost. Nicht wie die Liedermacher, nicht wie die vom Staat unterdrückte Combo »Renft«
Also haben sich Musiker mit relativ zahmen Songs eine »Amateurmusiker-Spielerlaubnis« ergaunert und sich heraus an die Grenzen der Gesellschaft gewagt. Ihre Musik hat sich daran entlang getastet wie an den zu dicken Mauern um einen zu kleinen Raum. Dann hat sie dagegen gedröhnt, mit gar nicht zahmen Texten, als könnte sie so die Mauern sprengen.

Die Bands trugen Namen wie »Herbst in Peking«, »Die Art«, »Die Skeptiker« oder »Feeling B«. Sie spielten Punk, Gitarrenrock, Ska. Hauptsache independent sein, unabhängig wirken. Sie sangen wütende, ironische, »staatsfeindliche« und teils sehr schlechte Texte. Dazu tanzten die Leute Pogo, wo man sich gegenseitig anspringt, und tranken zu viel. Die Musiker liefen stets Gefahr, die SpielErlaubnis zu verlieren: Nachdem Herbst in Peking im Sommer 1989 auf einem Konzert eine Schweigeminute eingelegt hatten für das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, wurden sie verboten.

Die Musik traf ins Unterbewusstsein und schubste die tanzenden Abiturienten, Lehrlinge und Studenten vom System weg, das sich demokratisch nannte, es aber nicht war. Der Staat hatte das gemerkt und versucht, die neuen »anderen Bands« zu integrieren, vielleicht auch zu korrumpieren mit Genehmigungen, Radioaufnahmen, sogar Reisepässen für den Westen. Sie haben Tost fast gekriegt.

Als »Die Anderen« für Auftritte ins andere Deutschland reisen durften, fühlte er sich wie ein Wanderer zwischen Welten. Wenn nachts im Osten nichts mehr los war, konnte er einfach nach Kreuzberg in den Westen fahren. »Da habe ich verstanden, warum die Puhdys oder Silly alles daran gesetzt haben, sich diesen Status zu erhalten.«

Er hatte seinen Pass gerade drei Wochen, dann fiel die Mauer. Mit der Mauer war die Enge plötzlich weg. Sie war einer noch unbegreiflichen Weite gewichen. Man brauchte keine Nische mehr. Viele Gruppen lösten sich auf, »DIE ANDEREN« am 23. Dezember 1989. »Sandow« aus Cottbus haben noch zehn Jahre lang ausgehalten: mit einem immer größeren Anspruch an sich selbst, aber mit immer weniger Publikum, das meist ein ostdeutsches blieb.

Im Juni gaben Sandow ihr letztes Konzert in Leipzig. 700 kamen – das war viel. »Die Leute haben geheult«, sagt Sänger Kai-Uwe Kohlschmidt flüsternd, wie er alles flüsternd sagt, obwohl er sehr laut singen kann. Auf seinem Schreibtisch steht ein winziger Grabstein mit der Aufschrift »Sandow«. Tod im Alter von 17 Jahren – sie hatten sich als Schüler formiert. Kohlschmidt nennt Sandow heute einen lyrischen Versuch, die letzte CD sei »eher symphonisch«.

Er hat einen Hang zum Pathetischen, er wird ein Buch schreiben: über den Versuch, der gescheitert ist an einem Streit, aber auch am Unvermögen oder Unwillen, den Musikmarkt und somit den Westen zu erobern.

»Sandows« Tod und die Renaissance der »Anderen« haben die gleiche Ursache: Die Sänger, die Köpfe beider Bands, sind weiter auf der Suche. Sie haben hinter den Mauern, in der neuen Gesellschaft, nicht das Erhoffte gefunden. »Man ist heute wieder in einer Zwinge. Sie setzt nur woanders an«, sagt Olaf Tost. Die Leute, die Freunde, er – alle verbrächten immer mehr Zeit mit sich selbst, allein eine Stunde pro Tag mit Selbstverwaltung: Quittungen abheften, Steuererklärung machen, Geld anlegen.

Tost arbeitet als freier Fernsehreporter, meist für die Deutsche Welle. Er hat dadurch die halbe Welt gesehen. Er sagt, er will die DDR nicht wiederhaben, »dass bloß nicht der Eindruck entsteht«. Er war auf den Galapagos-Inseln, dem Sunset-Boulevard, in Fernost. Nur, wenn er nach Hause kam, hatten sich die Leute um ihn herum wieder verändert. Sie zogen sich immer mehr zurück, schauten nicht nach links und rechts. »Viele wissen nicht mehr, was wirklich wichtig ist und was nicht.« Deshalb will Tost wieder ein »Anderer« werden.
Er will die Plattform Band wiederhaben. Um Ruhm und Geld geht es nicht. »Es geht um einen Beitrag zum Erhalt der psychischen Hygiene«, sagt er. Als Fernsehmann müsse er seine Dienstleistung verkaufen. »Aber auf der Bühne bin ich frei, da muss ich keine Rücksicht nehmen.«

In der kleinen, kalten Wohnung am Prenzlauer Berg sind Olaf Tost und sein Bassist bei einem Spaßlied angekommen. Was zum Tanzen, auf englisch. »Shake your body, move your leg/ If you wont get old and fat.« Würde auch im Westen funktionieren. Nur hat Tost nicht mehr viel Lust auf den Westen. Er hat den Kontakt gesucht, privat und auf Recherche fürs Fernsehen. Er fand Langeweile und – er wird gemein: »Männer ohne Narben, Frauen ohne Erotik«. Ja, er weiß, das sind ungerechte Kategorien. Es gebe natürlich Ausnahmen. Bloß, man könne es nicht ändern, »was uns eint, haben die nicht erlebt: den historischen Bruch in der Biografie«.

Kai-Uwe Kohlschmidt, der Sandow-Überlebende, interessiert sich nicht für die Gesellschaft, nicht für Politik. Sagt er. Doch schießt es zu schnell, zu bissig aus ihm heraus, dass man heute nicht freier sei als im Sozialismus. »Die Wurzel der Kapitalgesellschaft ist die Angst, die Wurzel des Sozialismus ist die Hoffnung, bis hin zum Phlegma.« Die Leute würden wieder verscheißert, bloß auf andere Art. »Aber Angst treibt Menschen voran. Insofern ist der Kapitalismus ehrlicher.«

Kohlschmidt hat aufgegeben, gegen das neue System zu rebellieren. Vielleicht hat das mit Reife zu tun – er ist jetzt 30, hat ein drei- und ein siebenjähriges Kind. Er lebt mit seiner Frau im Westen Berlins, schreibt Filmmusik für Arte und den neuen Spielfilm von Detlev Buck, »Liebesluder«. Er macht auf privat.

Und doch ist da der Stolz auf seine Versuche, die westliche Musikindustrie zu ärgern. Als Reporter der Bravo einmal mit ihm reden wollten, hat er sie hinausgeworfen. Und als Sandow 1991 bei einem großen Rockfestival spielen durften, vor den »Ramones« und Iggy Pop, haben sie die Veranstalter gefoppt. Statt wie verabredet drei Titel zu bringen, bauten sie ihren Auftritt auf wie ein langes Konzert. Sie ließen eine Ouvertüre aus ihrer Musik dröhnen, stellten sich dazu in Heldenpose auf, um danach drei harte Songs zu spielen. Das Publikum war aufgekratzt. Es wollte mehr. Aber mehr ging nicht. »Seitdem galten wir bei großen Veranstaltern als unberechenbar«, sagt Kohlschmidt.

Buhen, bis Kati weint.

Dabei hatten die Jungs aus Cottbus, was sich jede Band wünscht: den einen großen Hit, »Born in the G.D.R.«, eine Hymne. Das Problem war nur, dass sie 1988 entstanden war und auch nur zur Ostzeiten Sinn machte: »Jetzt, jetzt lebe ich/ Jetzt, jetzt trinke ich/ Jetzt, jetzt stinke ich/ Jetzt, jetzt rauche ich/ jetzt brauch ich dich?!«, grölten sie von der Bühne und: »Wir bauen auf und tapeziern nicht mit./ Wir sind stolz auf Katharina Witt: Born in the G.D.R.« Das Lied war Antwort auf jene Großkonzerte mit West-Stars, die der Staat Ende der achtziger Jahre seinem Volk zuteilte.

Bruce Springsteen mit seinem »Born in the USA« hatten die DDR-Kulturfunktionäre 1988 nach Ost-Berlin gelotst, und die sächselnde Eisprinzessin Katharina Witt hatte moderiert. Sie wurde so lange ausgebuht, bis sie weinte. Es war Hass und Neid: Witt war eine, die sich lächelnd neben Erich Honecker zeigte. Witt war eine, die in die USA durfte.

Born in the G.D.R.« kann man jetzt in Leipzig im »Zeitgeschichtlichen Forum« hören. Ins Museum hätte Kohlschmidt das Lied schon 1991 gern verbannt. Aber das Publikum wollte es immer weiterhören. Aus Nostalgie. »Da ist so eine falsch verstandene Wärme, die man im Nachhinein in die DDR interpretieren will«, sagt er. »Sandow« wollten das Lied nicht mehr. »Wär doch wie Rex Gildo mit seinem Hossa, Hossa«, sagt Kohlschmidt.

Sie haben den Wunsch des Publikums ignoriert, sie haben die Leute beschimpft. Und als das nichts mehr half, haben sie 1997 die Hymne persifliert mit einem bombastisch-klebrigen Sound. Sie sind auf der Bühne in weißen Overalls herumgehopst wie eine Boygroup. Haben es die Leute verstanden? »Nein«, sagt Kohlschmidt, »sie waren verstört.«

Plötzlich meinten alle »in einer Verklärtheit«, es sei so nett gewesen damals im Osten, und man sei sich so nah gewesen. Aber Kohlschmidt wird nicht vergessen, wie die Volkspolizei 1989 in Magdeburg, zum 40. Jahrestag der Republik, sein Publikum zusammengeschlagen hat oder wie die Stasi den Text seines Theaterstücks aus den Cottbuser Proberäumen geklaut hat. Gewundert hat es ihn nicht. Auf den Konzerten, sagt Kohlschmidt, »brannte die Luft. Das war wie ein Aufmarsch.« Wofür? »Um das System zum Einsturz zu bringen.«

Erscheinungsdatum
10.12.1999
Verlag
Süddeutsche Zeitung


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