Die Macht der Leichtigkeit

Eine Karriere ohne Risiko: Klaus Wowereit ist überall präsent und doch nicht zu fassen

Wo anfangen? In der Geisterbahn? Auf dem Brandenburger Tor? Bei der Lieblingsnachspeise, einer “Charlotte”? Vielleicht in Lichtenrade, wo Klaus Wowereit groß wurde und zum Politiker, wo er lebt, tief im Berliner Süden.

Wenn er aus der Auffahrt des kleinen, grau gewordenen Eigenheims an der Schillerstraße fährt, wo sein Name am Briefkasten steht, in Klebebuchstaben, W-o-we- r-e-i-t, Schwarz auf Gold, grüßt er die Nachbarsdamen aus einem Opel-Astra heraus, mit tiefem Diener überm Lenkrad, und sie winken ihm geschmeichelt zu, einem graumelierten, gut aussehenden Herren von bald 48 Jahren, das Gesicht glatt.Er braucht für den Augenblick nicht nach vorne zu schauen, es ist kaum Verkehr auf der Buckelpiste, die gesäumt ist von der Heimeligkeit des kleinen Besitzes, Häusern ohne Glanz. In den sechziger und siebziger Jahren muss es einen Boom gegeben haben, so viele im Bungalow-Stil sieht man da, die Fenster zur Straßenseite eher Schlitze.

Vor dem kleinen grauen Haus steht jetzt dauernd Polizei. Und wenn Wowereit einen Termin hat, privat oder dienstlich, wird er von Personenschützern begleitet. Manchmal bekommen die Männer mit den Spiraldrähten am Ohr nur zwei Stunden Schlaf, Wowereit hält gut durch. Das Bewachtwerden mag er nicht, es ist ein Nachteil, den sein neues Amt mit sich bringt, Regierender Bürgermeister Berlins zu sein, wenn auch erst mal auf Zeit.

Wer hätte das im Januar gedacht? Er nicht, nicht für dieses Jahr, irgendwann, ja, vielleicht. “Dass ich einer der möglichen Spitzenkandidaten der SPD bin, war mir klar, als ich 1999 Fraktionschef wurde”, sagt er, nebenbei fast. Er ist immer ehrgeizig gewesen, bloß nie um den Preis, sich zu verausgaben.

Jetzt ist das anders. Die SPD will stärkste Partei werden am 21. Oktober, bei den Neuwahlen. Er ist ihr Gesicht. Er ist im Amt. Das muss ein Bonus sein.

Lehrerinnen im Supermarkt

Lichtenrade ist ein Zipfel des alten West-Berlins. Lichtenrade ist ein Dorf, sagen die Leute hier. Eine lange Trasse, die B 96 gen Brandenburg durchzieht das Stadtdorf; links und rechts liegen verschlafen die Siedlungen. Die Bahnhofstraße ist ihr Zentrum ohne Herz, S-Bahn-Station, Tankstelle, Apotheke, Bank, Damenblusen hinter trüben Schaufenstern. Als Wowereit Volksbildungsstadtrat war im Bezirk Tempelhof, zu dem Lichtenrade zählt, haben ihm hier Lehrerinnen im Reichelt-Supermarkt aufgelauert. Sie klagten ihm ihr Leid, und er nahm sich der Sache an. Dabei hätten die Frauen den Dienstweg nicht eingehalten, sagt Wowereits damaliger Verwaltungschef, empört noch immer.

Gut elf Jahre lang war Wowereit Stadtrat, vom 30. Lebensjahr an: von 1983 bis 1995, neun bis sechzehn Uhr, zwei bis drei Abendtermine die Woche, Dienstrecht, Lehrerstellenplan, Pädagogik-Richtlinien, Asbestsanierung. Aufregend war anderes, waren Reisen, wie 1984 nach China, als der Eiserne Vorhang noch fest zugezogen war. 1985 wollte er ins Abgeordnetenhaus. Aber im SPDVerband Tempelhof gab es viele Ältere mit älteren Rechten, sie haben ihn nicht mal nominiert. Da wurde er eben Stadtrat, dafür der jüngste in Berlin und Dienstherr der ehemaligen Lehrer. Er hatte das Talent, erzählen Schulleiter, Reden aus dem Ärmel zu schütteln, die manchmal flach, aber nicht schlecht waren. Und sie fragen sich jetzt, wo ihm die Leichtigkeit abhanden gekommen ist.

Seine erste Regierungserklärung, nachdem die SPD im Juni Eberhard Diepgen (CDU) gestürzt und ihn gewählt hatte, mit den Stimmen der Grünen und der PDS, war ohne Verve gehalten und ohne Lust geschrieben. “Wo ist denn da der Aufbruch?”, fragt Frank Steffel, sein Widersacher von der CDU. Die Berliner Morgenpost verglich Passagen mit einer alten Rede Diepgens und stellte fest, sie seien austauschbar. Mitreißend ist Wowereit nicht, kalkulierend eher, mal setzt er einen Scherz in der richtigen Runde. Oft schweigt er neuerdings auch, lächelnd. Es soll ein staatsmännisches Schweigen sein, wenn man die Strategen der SPD richtig versteht, zum Beispiel zum Thema PDS. Das steinige Feld soll die Partei bestellen mit ihrem Chef Peter Strieder. Immerhin besteht die Möglichkeit, dass die PDS bald mit regiert und sich Wähler deshalb mit Grausen abwenden von der SPD. Wowereit sagt nur, man müsse die Sorgen ernst nehmen. Aber wie, das sagt er nicht. Und weicht aus: Die Grünen seien doch der Wunschpartner.

Wowereits Schweigen kann man auch anders verstehen. Als Ratlosigkeit. Denn bei anderen heiklen Themen packt er ja zu, wenn es Themen sind, die er kennt und in Zahlen fassen kann: Wowereit will die Fusion der S-Bahn mit den Berliner Verkehrsbetrieben, er kündigt die schnelle Fusion der Sender SFB und ORB an, er gibt seiner rot-grünen Regierung das Ziel vor, eine Milliarde Mark Personalkosten zu sparen. Sparen will er, muss er. Er nennt das Zukunftsfähigkeit. Ein papiernes Wort, doch es meint:Erst etwas wollen und dann sehen, ob es zu machen ist. Nicht anders herum, nicht wie Diepgen früher die Probleme treiben lassen im Schuldenmeer der Stadt. Wowereit kündigt seinen Willen nur gerne außerhalb des Senats an, was ihm schon Ärger eingebracht hat, besonders von den Grünen. Der Koalitionspartner braucht dringend Erfolge, um sich bemerkbar zu machen. Und Susanne Stumpenhusen, Vorsitzende der Gewerkschaft Verdi Berlin- Brandenburg, würde gern mal wissen, “was er mit dem Solidarpakt meint, den er mit uns schließen will”. Gut geübte Empörung schlug Wowereit entgegen, als er Anfang Juni sagte, Kündigungen im öffentlichen Dienst seien wohl nicht zu vermeiden. “Am Tag danach stand er bei mir auf der Matte”, sagt Stumpenhusen. Von Kündigungen keine Rede mehr. Verdi hat in Berlin zehnmal so viel Mitglieder wie die SPD.

Milliarden sparen muss ein Regierungschef von Berlin und Großmüttern zum 104. Geburtstag gratulieren und sich um die Libido einer Pandabärin im Zoo sorgen, die China zur Befruchtung entsandt hat. Vieles amüsiert Wowereit noch, er studiert sein Amt wie ein Schauspieler die Rolle. Er hat jetzt den Schlüssel zum Brandenburger Tor? Fein, also steigt er aufs verhüllte Tor, Reparaturarbeiten anschauen, und Bilder liefern von sich, wie er oben steht, neben den mächtigen Rockschößen der Siegesgöttin Viktoria. Er muss aufs Deutsch-Amerikanische Freundschaftsfest? Na wenn das ein Rummel ist, dann geht er auch in die Geisterbahn. Er würde “in die Welt des Schreckens geführt”, sagt eine Geisterstimme, “es gibt kein Zurück mehr”. Das sei ja wie in der Politik, sagt Wowereit. Seine Witze sind nicht doll für einen Berliner.

Er ist ein Nachzügler, das fünfte Kind einer allein erziehenden Mutter. Als Einziger hat er studiert, Jura an der Freien Universität. Anders noch als die viel älteren Geschwister, habe er studieren können, ohne begütert zu sein, sagt er. Die neue Zeit, auch deshalb ging er in die SPD, blind quasi. “Was anderes kam nicht in Frage”, sagt er. Man entlockt ihm mit Mühe Gründe: die Ost-Politik Willy Brandts nennt er und dass die SPD Anfang der 70er Jahre den Reformstau aufgelöst habe. Was ist heute sozialdemokratisch an seiner Politik? “Das überlasse ich ihnen zu interpretieren”.

Sein rasanter Aufstieg in Berlin basiert auf Zufall und Ausschlussprinzip. Zufall war die Affäre um den Banker und CDUFraktionsvorsitzenden Klaus Landowsky, die sich zu mehr auswuchs. Ausgeschlossen war, dass bei einem Machtwechsel andere in der SPD für das Amt in Frage kamen: Strieder, seit Jahren Bausenator und umstritten als Parteichef, galt als verbraucht. Klaus Böger, Schulsenator und vor der Wahl 1999 noch erpicht darauf, selbst Spitzenkandidat zu werden, hatte miserable Umfragewerte. Blieb Wowereit, der Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus, der Haushälter, der nette Landowsky-Jäger.

Sie zählen ihn in der Partei zu den Kuschellinken. Was immer das heißt, vielleicht, Ideen zu haben, aber kein Idealist zu sein. Seine Tour durch die Lokalpolitik hat er absolviert, ohne die kann man in Berlin nicht viel werden: Juso mit 18, Bezirksverordneter, Fraktionsvize dort, Fraktionschef, Kreisvorstand, Stadtrat. Eine Parteikarriere, klar und ungefährlich. Als er 1995 ins Abgeordnetenhaus kam, wurde er haushaltspolitischer Sprecher. Er hätte Staatssekretär werden können, entschied sich aber fürs Parlament und unterstützte die neue Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing (SPD): Die Frau aus Hessen verschrieb Berlin das Sparen. Wowereit verabreichte ihre Ideen der Fraktion, charmant, aber bestimmt. Doch sie schmeckten den Sozis so wenig wie der Union. Dass Fugmann nach der Wahl 1999 von der eigenen Partei aus dem Senat gekegelt wurde, gegen seinen Widerstand, nennt er “bitter”.

Zu Pfingsten, vor zwei Monaten, als die Koalitionskrise wie dicke Luft auf die Stadt drückte, explosiv, und der Knall unvermeidlich schien, haben sie in der SPD Wowereit zu ihrem Kandidaten bestimmt, informell natürlich. Und er hat gesagt: “Na schönen Dank auch.” Noch Ende Mai hielt er die Krise für beendet. Landowsky war ja entmachtet, die SPD-Forderung erfüllt. Und ehrlich gesagt, erzählt einer, hatte Wowereit genug von den Presseanfragen von morgens bis abends, von den endlosen Krisengesprächen, vom Umstand, keine Zeit mehr zu haben für das, was ihm neben der Politik Spaß macht: eine Golfpartie, Handycap 28; Zeit für Oper und Theater. Überhaupt die Kultur, die sei sein “Hobby” und sein “Anliegen”. Sie betonen das in der Partei, in der Senatskanzlei, in den Amtsstuben, als sei es etwas Besonderes, sich dafür zu interessieren. Vielleicht ist alles nach Diepgen besonders.

“Ich will es gar nicht wissen”

Als Strieder und Wowereit dem Kanzler kurz vor ihrer finalen Krisensitzung mit der CDU erklären wollten, was ein Bruch in Berlin bedeuten würde, so im Bezug auf die PDS, hat Schröder sie gleich unterbrochen und gesagt: “Ich will es gar nicht wissen.”

Aus der CDU-Affäre war eine Bankenkrise geworden, daraus ein Finanzdesaster des Landes, schließlich die Bankrotterklärung des schwarz-roten Diepgen-Senats, der seit zehn Jahren regierte – und in dem sich die SPD nur noch blassrosa ausnahm: 22,4 Prozent bei der Wahl 1999. Ein nicht ganz anständiger Wunsch eines Taktikers der SPD sollte sich schneller erfüllen als geahnt: die große Koalition, wenn irgend möglich, noch während der Legislatur zu verlassen, vielleicht 2002. Jetzt bot sich die Chance ein Jahr eher, mit Wowereit vornweg. Doch der hatte noch etwas auf dem Herzen.

“Die meisten wissen es ja”, sagt er vorm SPD-Landesvorstand, wenige Tage bevor er zum Spitzenkandidaten gewählt wurde: “Ich bin schwul.” Beifall, rund 40 Leute saßen da. Es war nicht geplant, das auf dem Parteitag zu wiederholen, öffentlich. Aber das Outing drang zum Schwulenmagazin Queer, da bekam es die Frankfurter Rundschau mit, und als Bild ankündigte nachzuziehen, auf Seite Eins, 4,5 Millionen Auflage, hat Wowereit sich überlegt, es lieber selbst zu sagen. Er war aufgeregt am Rande des Parteitags, erzählt Strieder, der ihm abriet. Als Wowereit es dann sagte, schob er, mehr um sich selbst Mut zu machen, den Satz hinterher: “Und das ist auch gut so.” Ein Markenzeichen ist das jetzt, so gut wie Walter Mompers roter Schal.

Der erste Regierungschef in Deutschland, der seine Liebe zu einem Mann offen lebt, mag mehr mit sich gerungen haben, als er zu erkennen gibt. Denn allzu viele jener, die Jahr und Tag mit ihm zu tun hatten, wussten es dann doch nicht. Wowereit galt als Frauenschwarm. Er pflegte den Ruf offenbar, der Klatsch unter Lehrern und im Amt handelt jedenfalls von Verlobungen und mancher anderen Liaison mit Damen, blonden bevorzugt, man kennt die Namen. Das ist ein Nachteil im Lichtenrade, dem Dorf in der Stadt, da ist Berlin nicht anonym.

Er kommt von dort, vermutlich bleibt er da, in dem kleinen ergrauten Haus. Er kocht gern, bestimmt schaut der Kanzler mal vorbei, der sich jetzt gern mit ihm zeigt. Wowereits Desserts sollen ein Traum sein. Sein Favorit zurzeit sei “Charlotte Lorraine”, sagt er, ein Rezept, das kein französisches Nachschlagewerk kennt. Vielleicht ist es eine Kirsch-Creme auf Biskuit. Die gab`s mal bei einem Pressefrühstück. Als er noch Zeit hatte für die Dinge neben der Politik.

Erscheinungsdatum
11.08.2001
Verlag
Süddeutsche Zeitung


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