Wir sind die Linken

Die einen sanieren Städte schön, die anderen wollen die Stasi wiederhaben: Oskar Lafontaines neue Genossen pflügen die politische Landschaft um und laufen von Erfolg zu Erfolg – in verschiedene Richtungen. Bilder einer gespaltenen Partei

Man muss nicht merken, dass ein Linker regiert. Hildburghausen, eine Kleinstadt aus Fachwerk und gestopptem Verfall im Thüringer Märchenwald. Steffen Harzer ist hier seit 1996 Bürgermeister und glaubt es die nächsten sechs Jahre zu bleiben. Weil er weiß, was die Leute wollen: Die moderne Bibliothek und die neue Schwimmhalle mit Sauna sind schon da. Auf dem Markt wird bald frisches Pflaster verlegt. Das neue Theater eröffnet im Oktober.

Harzer, Ingenieur und “ein Roter” in gutem Anzug, kommt den Hildburghäusern nicht mit Afghanistan oder Arbeitslosengeld II, nicht mit Gerechtigkeit oder Sozialismus. “Die Leute wollen sichergehen, dass ihr Grundstück nicht voll Wasser läuft oder dass sie einen Krippenplatz kriegen.” Am 2. März steht Harzer zur Wiederwahl.

Der 47-Jährige hat gute Karten. Er liebt Blues, auf seiner Brille steht “Boss”.

So wie Harzer ist die Linke im Osten, nicht nur Volkspartei, sondern ziemlich bürgerlich. Das macht den großen Unterschied zu den Linken im Westen aus. Die reden andauernd über Afghanistan und Arbeitslosengeld II, über Sozialismus und Gerechtigkeit, auch wenn sie bloß in die Hamburger Bürgerschaft einziehen wollen oder in den Stadtrat von Ansbach.

Die Linke läuft von Erfolg zu Erfolg. Sie sitzt, vor Kurzem undenkbar, in drei westdeutschen Landtagen, Sonntag winkt in Hamburg der nächste Triumph. Der Fall Zumwinkel treibt ihr die Wähler zu. Sie liegt in Umfragen seit Monaten im zweistelligen Bereich, bundesweit. Sie könnte ein Machtfaktor sein.

Aber die Linke hat ein Problem: Sie läuft in Ost und West in entgegengesetzte Richtungen. Im Osten ist alles auf den Griff nach der Macht ausgelegt, im Westen alles auf Opposition. Im Osten will die Linke 2009 mit Bodo Ramelow in Thüringen den ersten Ministerpräsidenten ihrer Geschichte stellen.

Im Westen zäunt sie sich links von der SPD ein. Im Osten agieren Profis, im Westen idealistische Amateure, bestenfalls. Eigentlich ist die Linke immer noch die zwei Parteien, aus denen sie zusammengeflickt wurde: Ost-PDS und West-WASG.

Diese Zerrissenheit und der schnelle Erfolg, der jetzt Figuren wie das DKP-Mitglied Christel Wegner in die Westparlamente befördert, sind das Einzige, was die Linke ernsthaft in Gefahr bringen kann. Denn dass sie als fünfte Kraft bald wieder verschwindet wie ein schlimmer Schnupfen, daran glaubt momentan nur die SPD. Aber sie hat auch mal geglaubt, die PDS werde sich von allein erledigen. Wahrscheinlich ist etwas anderes: dass die Linke dauerhaft Wähler bindet und deshalb die schöne Zeit der einfachen Mehrheiten und alten Zweier- Koalitionen vorbei ist.

In seiner lustigen Aschermittwochsrede ruft Gregor Gysi im saarländischen Wallerfangen den Oskar schon als Ministerpräsidenten aus. Die Masse jubiliert, als stünde mit Linke-Chef Lafontaine ein neuer Messias auf der Bühne und nicht ein Haudegen im Rentenalter, den Wahlkämpfe zunehmend anstrengen, der nach dem auftrumpfenden Auftritt in den Saal weist und leise sagt: “Wissen Sie, ich brauche das hier nicht für mich. Ich mache das wirklich, damit linke Inhalte wieder Politik werden.” Wie die aussehen, passt auf ein paar Flugblätter: “Hartz IV abschaffen”, “Armut bekämpfen” oder “Bildung gebührenfrei für alle” steht auf den Zetteln, die stapelweise um Dora Heyenn herumliegen.

Die Lehrerin sitzt in ihrem Parteibüro in Hamburg, Endspurt im Wahlkampf. Die ernste Spitzenkandidatin sieht müde aus und ein bisschen glücklich. Am Sonntag scheint es nur noch um die Anzahl der Sitze in der Bürgerschaft zu gehen, nicht mehr um den Einzug als solchen.

Heyenn, 58, dreifache Mutter, Ex- Sozialdemokratin, führt einen dieser Gegenalles- Wahlkämpfe, den die Parteifunktionäre in Berlin für den Westen ersonnen haben. Den Reichen nehmen, den Armen geben, eine Robin-Hood-Strategie. Wie alle Emsigen in den Unterorganisationen der Linken glaubt Heyenn, ihr eigenes Ding zu machen, “wir sind autonom”. Dabei gleichen sich die Formulierungen von Bayern bis Bremen aufs Wort: Überall reden sie vom “Sozialticket” fürs Hartz-IVPublikum, von der “integrierten Gesamtschule”, dem Rückkauf privatisierter Stadtwerke und dem Mindestlohn. Eisern wird der gegen Übernahmeversuche der Sozialdemokraten verteidigt. “Mit der SPD koalieren”, sagt Heyenn, “wollen wir auf keinen Fall.” Damit liegt sie schön auf Linie ihres Parteivorsitzenden/West. Es ist kein Geheimnis, dass Oskar Lafontaine mit Regierungsbeteiligungen wie in Berlin hadert.

Was er nicht offen sagt: Im Westen kämen der Linken Bündnisse mit der SPD regelrecht ungelegen, zumindest bis zur Bundestagswahl 2009 – allen taktischen Angeboten an die hessischen Sozialdemokraten zum Trotz. Zu unscharf ist das eigene Profil noch, zu unerfahren der Apparat. Zu verwässert würden linke Forderungen in einer rot-roten Regierung. Und zu groß ist die Furcht, Wähler wieder zu verlieren, die von der SPD übergelaufen sind.

André Brie, Hausphilosoph seiner Partei, streitet über diese Haltung mit Lafontaine: “Wenn wir uns als Partei für sozial Ausgeschlossene betrachten, können wir den Betroffenen nicht sagen: Wählt uns, und dann warten wir zusammen auf den radikalen Wandel der Gesellschaft.” Also den Harald Wolf machen: Der ehemalige Trotzkist ist in zweiter Amtszeit zahmer Wirtschaftssenator im rotroten Berlin.

Wolf sagt, es sei unmöglich, die Linke dauerhaft als Protestpartei zu etablieren. Er zitiert Wolf Biermann: “Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.” Doch wer sich, wie er, hineinbegibt, wird auch mal angeschossen: Die Linkspartei in Berlin musste im Herbst 2006 schwere Verluste hinnehmen, als sie aus der Regierung heraus zur Wahl antrat. Unter SPD-Mann Klaus Wowereit hatte sie die verhassten Hartz-Gesetze umsetzen müssen, half, hart zu sparen, stimmte dem Verkauf von Landeseigentum zu. Sie tat genau das, wogegen sie jetzt überall zu Felde zieht – und verlor 40 Prozent der Stimmen im Osten Berlins, im Westen rutschte sie unter fünf Prozent. Sie regiert trotzdem wieder mit.

In den alten Ländern würde das auch deshalb schlecht funktionieren, weil die Abgrenzung zur SPD, die Bitternis über die Agenda 2010 der Grundstein im Parteifundament ist – und weil die SPD jede Zusammenarbeit verweigert, als wäre die des Teufels. Da hilft es wenig, dass sich mancherorts die Wahlprogramme gleichen. Und noch weniger, dass Sozialdemokraten einige der neuen linken Abgeordneten schlicht für “verrückt” erklären.

Viele der Listenplätze in Niedersachsen und Hessen, in Bremen und Hamburg gingen an intellektuelle Sozialisten und verkämpfte Gewerkschafter, gespült aus der SPD, aus kommunistischen Gruppen und aus dem harten Leben der Sozialarbeit.

Mancher kam mit Wünschen nach “Verstaatlichung von Schlüsselindustrien”, wie Christel Wegner in Niedersachsen. Die 60- jährige Krankenschwester in Frührente geriet als erstes DKPMitglied in ein Landesparlament.

Sie lebt in einem gemütlichen Reihenhaus in der Nordheide, auf dem Briefkasten steht: “Keine Nazi- Post”. Die DDR “war für mich auf jeden Fall der sozialere Staat”, schwärmt sie. Bei den Wahlen “haben sich 98 Prozent beteiligt”. Damit der Mensch im Vordergrund stehe, sagt sie, müsse man “diesen Kapitalismus einfach abschaffen”. Sie weiß auch, wie man die erträumte “gerechtere Gesellschaftsform” schützen könnte: mit “so einem Organ” wie der DDR-Staatssicherheit.

Christel Wegner ist eher naiv als gefährlich – außer für die Linke, die so bemüht ist, sich von Stasi, Schießbefehl und Wahlfälschung zu distanzieren. Nun distanzierte die Partei sich rasch von der Frau, die sie in den Landtag gehievt hatte, und warf sie aus der Fraktion.

Auch anderswo bringen die linken Neulinge Leben in die Parlamente, jeder Art: In Bremen fiel die Bürgerschaftsfraktion um ihren Chef Peter Erlansson statt mit Politik mit einem öffentlich aufgeführten Liebesdrama auf. Einer ihrer Geschäftsführer bedachte Vize- Fraktionschefin Sirvan Çakici, eine 27-jährige Schönheit kurdischer Abstammung, mit verknallten Kurzbotschaften auf dem Handy: “Du süße, verbotene Frucht” – und flog raus. Die kreative Buchhaltung der Fraktion mussten Helfer aus Sachsen und Berlin auf Vordermann bringen, bevor der Landesrechnungshof eingegriffen hätte.

In Hessen hat man daraus gelernt. Mit dem parteilosen Willi van Ooyen hat die Linke einen distinguierten Friedensaktivisten an der Spitze der Fraktion platziert und Frauen wie die ehemalige Sozialarbeiterin Marjana Schott gewonnen. Bevor Schott das erste Mandat ihres Lebens errang, arbeitete sie als Insolvenzverwalterin.

Sie beriet gescheiterte Ich-AGler, die es ihrer Meinung nach ohne Hartz-Reformen nicht gegeben hätte. Parteichef Ulrich Wilken, auch er nun im Landtag, hat als Wissenschaftler das türkische Arbeitsministerium fit für Europa gemacht, in Skopje die Sozialverwaltung mit aufgebaut und arbeitet gerade frei für das Bundeswirtschaftsministerium.

Die SPD sollte nicht darauf setzen, dass sich die Linke bald von selbst erledige, sagt Wilken gelassen. Allein er habe 200 Mitgliedsanträge erhalten. Und die Gewerkschaften “haben die Wahlergebnisse wie ein Startzeichen genommen. Überall suchen sie mit uns das Gespräch”.

Darin können die Linken über vieles plaudern – bloß nicht über ihr Programm. Denn es gibt noch keins. Angeblich möchten Lafontaine und Gysi es auch dabei belassen bis zur Wahl 2009. Ein Fehler, findet die stellvertretende Parteichefin Katja Kipping. “Manche denken, man könne eine neue Partei gründen, aber für sie bleibe alles beim Alten”, sagt die 30- jährige Bundestagsabgeordnete aus Dresden. Man brauche aber neue Antworten auf neue Probleme. “Wir können der Altersarmut nicht dadurch begegnen, dass wir einfach zur alten Rentenformel zurückkehren.”

Mehr als eine enervierende Programmdebatte scheut die Parteispitze aber Geflüster übers Personal. Dabei ist das Problem offensichtlich, in Form grauer Haarkränze und runder Geburtstage: Sogar Gysi, 60, und Lafontaine, demnächst 65, werden nicht jünger. Aber weit und breit sind keine Nachfolger in Sicht. “Es gibt auch keinerlei Versuche, andere Personen mit ähnlicher Ausstrahlung aufzubauen”, sagt André Brie. “Wenn die nach 2009 nicht weitermachen, wird es sehr schwierig, das Niveau nur annähernd aufrechtzuerhalten.” So viele Bedenken, so viel Taktik. Wer weiß, wenn Kerstin Kernstock- Jeremias das wüsste, ob sie sich nicht gleich wieder abwenden würde. So aber gibt sie sich dem Zauber des Anfangs hin, der Begeisterung, wieder eine politische Heimat gefunden zu haben. “Das Eintreten für Schwächere, Verantwortung für andere zu übernehmen und nicht nur für sich selbst”, sagt sie, das sei ihre Vorstellung vom Sinn der Politik.

Kernstock lebt in Ansbach, Mittelfranken. CSU und SPD arbeiten hier seit Jahr und Tag prächtig Hand in Hand. Die 39- jährige Medizinische Fachassistentin in einem Schlaflabor will dabei ein bisschen stören. Am 2. März, wenn Steffen Harzer in Hildburghausen sein Rathaus verteidigen wird, versucht die zierliche blonde Frau für die “Offene Linke” in den Stadtrat einzuziehen. Sie hat schon eine kleine Karriere in der lokalen SPD hinter sich. Als sie austrat, sagte eine Ex-Genossin, sie sorge sich, “weil ich abtrünnig sei und so extrem. Dabei habe ich nur meine Ideale behalten”.

Harzer und Kernstock treten beide für dieselbe Partei an. Wüsste man das nicht, man käme nicht darauf. “An Frieden denken heißt an Kinder denken” steht neben Kernstocks Foto auf der Wahlkampfseite im Internet. Harzer preist die Ansiedlung neuer Betriebe und verkündet, welche Straßen er als Nächstes verschönert. Er trennt die großen Themen tunlichst von den kleinen. “Hartz IV oder die Bundeswehr im Ausland”, sagt er, “das ist Bundespolitik.” Sie verbindet die kleinen Themen mit den großen, die Hubschrauberbasis der US-Armee im fränkischen Wald mit den deutschen Soldaten am Hindukusch.

Die eine will die ganze Gesellschaft ein bisschen besser machen, der andere erst einmal seine Stadt. Sozialismus ist eben immer eine Frage des Standorts.

Mitarbeit: Roman Heflik, Dieter Krause, Jan Rosenkranz

Erscheinungsdatum
21.02.2008
Verlag
Stern
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